Arlington, Virginia, 29.05.2015
Wenn ihr kommt, um mein Grab zu besuchen,
wird mein Grab scheinen als ob es tanzt.
Rumi
Blick von Kennedys Grab zum Washingtondenkmal |
Nachdem er die Armeen des Königs von Preußen und des
russischen Zaren in der Schlacht von Eylau besiegt hatte, ritt Napoleon, Kaiser
der Franzosen mit den Offizieren seines Stabes über das Schlachtfeld.
Großmarschall Duroc, der Jugendfreund und engste Berater des Kaisers war
entsetzt über die vielen Toten, mit denen Frankreichs Armee ihren Triumph
bezahlt hatte.
„ Das ist keine große Sache, Duroc“ wies der Imperator ihn
kalt zurecht „ eine einzige Nacht in den Betten von Paris wird all das wieder
gut machen.“
Am Abend, in seinem Zelt schrieb Christoph–Michel Duroc,
Herzog von Friaul in sein Tagebuch : "Niemand haßt den Krieg so sehr wie die,
die in ihm kämpfen.“
Die Sonne brennt unbarmherzig vom Himmel über Arlington
County. 91 Grad Fahrenheit – das entspricht ungefähr 33 Grad Celsius- sagt der
Wetterbericht an diesem Freitag für den Großraum Washington voraus und ich
denke etwas wehmütig an mein im Hotelzimmer vergessenes Basecap. Hinter mir folgt die Ehrengarde des US Marine
Corps in ihren blauen Uniformen im langsamen Paradeschritt einem mit der
Nationalflagge bedeckten Sarg auf einer Geschützlafette. Arlington National
Cemetery, der größte im Betrieb befindliche Friedhof der Welt, führt täglich
zwischen drei und fünf Bestattungen durch.
Mein Ziel, Sektion 60, die Ruhestätte der Gefallenen des
Krieges gegen den Terror, liegt am entgegengesetzten Ende des Friedhofes, fast
in Sichtweite des Pentagon. Zu meiner Rechten, auf der Spitze eines Hügels,
erhebt sich ein malerisches, weißes Gebäude, umsäumt von antiken Säulen –
Arlington House, das ehemalige Anwesen des Generals Robert E.Lee und seiner
Frau Mary Custis Lee. Weil er nicht gegen seinen Heimatstaat Virginia kämpfen
wollte, schloß sich Lee, ein überzeugter Anhänger der Union den Südstaaten an
und wurde zum gefürchtetsten Gegner der Nordstaatenarmee. Im zweiten Jahr des
Krieges, als die Friedhöfe zu klein für die vielen Gefallenen geworden waren,
ordnete General Montgomery Meigs, der Generalquartiermeister der Nordstaaten
an, das Anwesen des Verräters Lee zu enteignen. Die Gefallenen der Union
sollten künftig in Mrs. Lees Rosengarten bestattet werden, mit Blick auf den
Potomac und das Weiße Haus.
Am Fuß des Hügels, inmitten eines weiten Atriums liegt der
jüngste Präsident der USA bestattet, an der Seite seiner Frau und seines
Bruders. Ich denke an ihn und an das, was mich hierher geführt hat, ein altes,
zerlesenes Magazin, den „Rolling Stone“, mit der Geschichte der Soldatin Sam.
„Wir haben uns dazu entschlossen, zum Mond zu fliegen und
all die anderen Dinge zu tun, nicht etwa, weil sie so leicht zu erreichen
wären, sondern gerade deshalb, weil sie so schwer sind.“ rief John F. Kennedy kurz nach seiner Wahl zum
Präsidenten Studenten in Houston zu.
„ Ich will den Leuten beweisen, dass ich etwas kann“
antwortete Sam, das achtzehnjährige Mädchen aus Tucson im US-Bundesstaat
Arizona ihrem Zugführer im Irak auf seine Frage, warum sie zur Armee gegangen
war.
Arlington House mit dem Familiengrab der Kennedys |
Für gewöhnlich sind Friedhöfe sind Orte, an denen man
Menschen begegnet, die ihr Leben gelebt haben, deren Gräber von Kindern oder
Enkeln mit Blumen geschmückt werden. Als ich zum ersten Mal Sektion 60, das riesige, fast exakt
rechteckige Gräberfeld am nordwestlichen Ende Arlingtons durchschreite, denke
ich unwillkürlich an die Worte des Dichters Maxwell Edmonds, seine Inschrift
für das Denkmal gefallener Soldaten des 2.Weltkrieges: „Wenn du nach Hause
kommst, erzähle ihnen von uns und sage ihnen, dass wir für ihr Morgen unser
Heute gaben.“ Kein Präsident, kein ranghoher Militär oder Prominenter liegt
hier begraben, kaum eine der Inschriften auf den gleichförmigen, weißen, exakt ausgerichteten
Grabsteinen zeigt ein Lebensalter von mehr als 30.
Sektion 60 liegt an diesem Tag fast vollkommen verlassen im
gleißenden Sonnenlicht, nur vier Soldaten der US Army in ihren blauen Dress-Blue
Galaunifomen gehen langsam von Grabstelle zu Grabstelle. Vielleicht sind sie
auf der Suche nach einem bestimmten Grab, genau wie ich.
Vier Tage nach Memorial Day, dem amerikanische
Gefallenengedenktag sind viele Gräber noch mit Blumen und persönlichen Gegenständen
geschmückt. Viele Familien der aus den ganzen USA stammenden Gefallenen mögen
nur dieses eine Mal im Jahr oder noch seltener die Gelegenheit haben, ihre
Lieben zu besuchen.
An der Rückseite eines Denkmals fällt mir etwas auf, eine
Art Brief, zusammen mit einer Kinderzeichnung in einer Plastiktüte. „ Ich habe
dich lieb. Ich weiß, dass du mich auch lieb hast. Du bist der beste Papa auf
der Welt. Kendall.“ Darunter hat das Mädchen, das vielleicht acht, neun Jahre
alt sein mag sich, Mama und Papa gezeichnet, den Vater in grüner Uniform. Ich
gehe langsam um den Stein herum, notiere mir den Namen und die Nummer in meinem
Handy, ich weiß, dass ich mehr darüber wissen muß.
Den beiden jungen Menschen, die zu besuchen ich mir
vorgenommen habe, fehlt jeglicher Grabschmuck. So bin ich doppelt froh über die
beiden Blumensträuße mit den kleinen Flaggen, die ich mitgebracht habe, einen
für die Obergefreite Sam Williams Huff, 18, aus Tucson, Arizona, Grabstelle
60/8109, denen anderen für das Grab Nr.60/8557, die letzte Ruhestätte des
Corporals Steven Robert Koch, 23, aus Milltown, New Jersey.
„In einhundert oder mehr Jahren wird es ohne jede Bedeutung
sein, in welchem Haus ich gewohnt, wieviel Geld ich verdient oder welches Auto
ich gefahren habe. Jedoch könnte die Welt dann eine andere, bessere sein weil
ich im Krieg gegen den Terror meinen Posten nicht verlassen habe. Wenn ich
dafür durch die Hölle gehen muß, werde ich gehen und mein Blut über unsere
Fahne vergießen, damit ihre Streifen rot bleiben.“ schrieb Steven, der
Fallschirmjäger kurz vor seinem Tod in Afghanistan an seine Mutter Christine.
Gut zwei Wochen vor Beginn unseres Urlaubes, am 6.Mai, kam
ich am späten Abend von der Arbeit und
fand bei Facebook einen langen Eintrag Christines, einen Gefühlsausbruch wie
ich selten zuvor einen gesehen hatte. Vier Tage vor Muttertag, am fünften
Todestag ihrer Tochter Lynne, die sich von Gram über den Tod ihres Bruders
zerfressen das Leben nahm, hatte der Schmerz und die Hoffnungslosigkeit die
Krankenschwester übermannt. „Garbage“ (Müll) sei sie für den Rest der Welt,
niemand würde sich für das Leid ihrer Familie interessieren. Ich verbrachte die halbe Nacht damit, mit der
verzweifelten Frau zu chatten, ihr Mut zuzusprechen. Gegen Morgen, als es schon
wieder hell wurde, erzählte ich ihr von unserer Reise und versprach ihr, das
Grab ihres Jungen zu besuchen.
Christine bedankte sich, aber ich hatte in ihrer Reaktion
den Zweifel gespürt, so dass ich nun, trotz der beklemmenden Umgebung, ein
wenig zufrieden mit mir bin.
Minuten später sitze ich im Gras in der Sonne, vor Sams
Grab, die Augen halbgeschlossen und höre über mein Headset „ihren“ Song. Ihr
Vater Bob, ein passionierter Musiker, war dabei, seine erste CD aufzunehmen,
als Sam in den Krieg zog. Ihre letzten Worte waren: „Ich wünsche Papa viel
Glück für sein Album.“ Bob Huff fügte seiner CD die einzige Aufnahme hinzu, die
im von Sam und ihrem Spiel auf der Flöte geblieben war. Er nannte den Song und
das Album „Sun and Moon“ – Sam.
Die
Musik ist verklungen und als ich die Augen aufschlage, bemerke ich, wie die
vier Soldaten einen respektvollen Bogen um mich machen. Langsam nehme ich mein
Armband, dass ich Tage zuvor aus der Gedenkstätte für die Opfer des 11.
September 2001 mitgebracht habe, von meinem rechten Handgelenk, lege es auf den
Grabstein und wende mich zum Gehen.
Mein letzter Blick fällt auf die Rückseite
des Steins, der das Grab von Sams Mutter Maggie markiert, die 2009 an Krebs
starb und nun Seite an Seite mit ihrem einzigen Kind ruht. „Keine Entfernung, keine
Zeit vermag unsere Herzen zu trennen . Ich habe an jedem Tag deines Lebens an
dich gedacht und werde für den Rest meines Lebens mit einem Lächeln im Herzen
an dich denken“ stand in dem Brief, den Maggie Sam mit in den Irak gab. Wenige
Wochen nach Sams Beerdigung vertraute sie der Journalistin Leslie Garrison,
einer Schulfreundin ihres Mannes an: „ Wir wachen jeden Morgen weinend auf und
denken: Mein Gott, wie lange ist ewig?“
Vorbei
an den endlos scheinenden Reihen weißschimmernder Grabsteine fahre ich mit der
U-Bahn zum Pentagon, zum zweiten der drei Schauplätze jenes schicksalhaften
Tages, der auf so dramatische und unabänderliche Weise in das Leben von Sam,
Steven, Bob, Maggie, Christine und vieler anderer eingriff.
Vor
der Seite des Gebäudes, in die am 11.September 2001 Flug 77 der American
Airlines einschlug, wurde den insgesamt 184 Opfern ein Ehrenhain errichtet. Im
Schatten von 184 Bäumen fließen unter 184 Bänken 184 ewige Quellen. Zusammen
mit einer der zahlreichen Schulklassen auf Jahresabschlussfahrt, die an diesem
Wochenende die Hauptstadt bevölkern, blicke ich auf die Fassade, an deren
unterschiedlicher Färbung die Abmessungen des Flugzeuges exakt auszumachen
sind. Die Jugendlichen hören ihrem Lehrer und einem Pfarrer zu, manche von
ihnen formen aus Kieselsteinen kleine Kreuze auf einigen der Bänke. Ich lege
ein paar Steine dazu, dann setze ich mich auf die Bank in die der Name des
Toten eingraviert ist.
Zurück
in meinem Hotel schicke ich über mein Iphone einige der Bilder vom Friedhof auf
Christines Facebookseite, widme sie Steven und seiner Schwester, dann suche ich
im Internet nach der Geschichte des Mädchens mit der Zeichnung. Oberfeldwebel
Scott Brunckhorst fiel am 30.3.2010 in Afghanistan als seine Tochter Kendall 3
Jahre alt war. Sie ist also heute acht und wird kaum viele bewusste
Erinnerungen an ihren „besten Papa der Welt“ haben.
Unwillkürlich
muß ich an die vielen Väter denken, die freiwillig darauf verzichten, ihr Kind
aufwachsen zu sehen, als ich das kleine rote Kommentarsymbol auf dem Display
meines Smartphones entdecke : „Ich schreibe das mit Tränen in den Augen, ich
danke dir so sehr, es bedeutet die Welt für mich, dass du nicht nur an Steven,
sondern auch an Lynne gedacht hast. Es tut immer noch so weh, jeder Tag aufs
Neue ist ein Kampf, aber das hier hilft
mir für eine gewisse Zeit….“
Heute,
am 11. September, dem 14. Jahrestag des Beginnes eines Krieges, von dem wir
heute noch nicht ahnen, wie lange er noch dauern und wie sehr er unsere Welt
verändern wird, denke ich an die Menschen, die mich durch diesen Tag im Mai in
Virginia begleitet haben.
An
Robert E. Lee, den Gentleman und genialen Feldherrn, der gegen seine
Überzeugung seiner Heimat treu blieb und sie doch nicht retten konnte und der
während einer der härtesten Schlachten erkannte: „ Es ist gut dass der Krieg
so grausam ist, wir könnten sonst wohlmöglich Gefallen an ihm finden.“
An
Bob, den Polizisten und passonierten Musiker, der eine glückliche Familie hatte
als der Krieg ausbrach, heute allein lebt und seine CD , auf der er dass letzte
Mal mit seiner Sam spielt, an 4000 Familien Gefallener schickte.
An
John F. Kennedy, der wenige Wochen bevor ihn die Kugeln des Attentäters Oswald
trafen, ahnungsvoll schrieb: „Ein Mann kann sterben, eine Nation steigen und
fallen, eine Idee aber lebt ewig.“
An
Christine, die jeden Tag ihre Kraft ihren krebskranken Patienten widmet, die an
jedem Tag ihren Schmerz über den Verlust ihrer Kinder mit der Welt teilen muß
und so anrührend dankbar für jedes mtfühlende Wort ist.
An
die jungen Menschen, die am 11.September 2001 im Grundschulalter waren und
heute in der Sektion 60 zu ihrer letzten Ruhe gebettet werden, weil sie der
Pflicht, ihrem Land zu dienen auch nach 14 Jahren Krieg gefolgt sind.
Schließlich
an Montgomery Meigs, den Begründer Arlingtons.
Als
Montgomery Meigs davon erfuhr, wer als erster Soldat dort bestattet werden
sollte, hob er das Grab in Mrs. Lees Rosengarten selbst aus.
Es
war sein eigener Sohn.
Einhundertfünfzig Jahre später, in einer Zeit, da die
Menschen sich daran gewöhnt hatten, den Krieg wie ein Videospiel zu betrachten,
trug ein junger Soldat den leblosen Körper seines besten Freundes, der neben
ihm gefallen war, vom Schlachtfeld.
Der junge Soldat war freiwillig, aus tiefster Überzeugung in
diesen Krieg gezogen und er war bereit, ihn bis zum Ende zu kämpfen.
Doch an jenem Tag hatte ihn der Krieg die Lektion des
Marschalls Duroc gelehrt.
Der junge Soldat begann den Krieg aus tiefster Seele zu
hassen
Er hatte das Auge der Bestie gesehen.
Den Gefallenen des Krieges gegen den Terror 11.09.2001- heute
EHRE IHREM ANDENKEN - SIE SIND UNVERGESSEN